Das Interview wurde ursprünglich von Verve Ventures veröffentlicht.
Wie wurde Ihr Interesse an privaten Kreditmärkten geweckt?
Private Debt (Privatkredite) ist ein moderner Begriff, aber der Geldverleih an Unternehmen ist natürlich eine sehr alte Praxis. Ich bin ausgebildete Historikerin und verbinde gerne die Gegenwart mit der Vergangenheit. Im Wesentlichen sind die Fragen, die man sich für das Treffen einer fundierten Kreditentscheidung stellen muss, immer noch dieselben wie vor Jahrhunderten. Steht das Unternehmen auf einem soliden Fundament und wird es trotz Konkurrenz florieren? Wie werden sich staatliche und regulatorische Entscheidungen auf sein Schicksal auswirken? Und so weiter. Da man viele verschiedene Dinge berücksichtigen muss, finde ich diese Aufgabe intellektuell anregend. Das Kreditwesen ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern eine Kunst.
Und woher kommt Ihr Interesse an Online-Kreditplattformen?
Ich habe einen guten Teil meiner Karriere im Bankwesen und in der Vermögensverwaltung verbracht. Irgendwann begann ich, mich für das Thema digitale Transformation zu interessieren. Ich wollte mehr darüber wissen, aber zum damaligen Zeitpunkt brauchte ich einen Schubs, der mich dazu zwingt, auch wirklich in das Thema einzutauchen. Wenn man 20 Jahre alt ist, erwartet jeder, dass man studiert, aber mit 40 wird erwartet, dass man arbeitet. Also beschloss ich, eine Promotion mit meinem Job zu kombinieren und schrieb eine Dissertation über Kreditplattformen und wie man sie skaliert. Die Promotion war der Motivationsrahmen und mit ihr hatte ich auch ein Ziel zum darauf hinarbeiten.
Investieren Sie auch persönlich über Kreditplattformen?
Natürlich, und ich würde jeden ermutigen, dies auszuprobieren. Das Schreiben und Lernen über ein Thema ist eine gute Grundlage, aber auch die Praxis ist wichtig. Ich habe mich bei vielen verschiedenen Plattformen angemeldet und interessiere mich sehr dafür, welche Prozesse dort etabliert werden, wie die Kundenakquise funktioniert, wie die Benutzeroberfläche gestaltet ist usw.
Kreditplattformen sind ein recht junges Phänomen. Was ist deren Daseinsberechtigung?
Es gibt zwei Hauptgründe für ihren Erfolg. Erstens haben die Banken seit der globalen Finanzkrise ihre Kreditvergabestandards verschärft, was bedeutet, dass immer mehr kleine Unternehmen unterversorgt sind. Zweitens hat die digitale Transformation es den neuen Marktteilnehmern ermöglicht, diese unterversorgten Kunden auf viel effizientere Weise zu bedienen. Damit meine ich, dass ihre digitalen Prozesse, wie z. B. die Kundenakquise, die Kreditwürdigkeitsprüfung und die Zahlungsabwicklung, schneller und kostengünstiger funktionieren als das papierbasierte Bankensystem. In den letzten Jahren ist ein zusätzlicher Faktor hinzugekommen, der das Wachstum solcher Plattformen beflügelt hat, nämlich die Tatsache, dass Investoren mit Einkommensfokus keine attraktiven Alternativen haben.
Jede Plattform muss das beidseitige Wachstum ausbalancieren, was bedeutet, dass die Zahl der Kreditnehmer mit der der Kreditgeber synchronisiert werden muss. Wie ist Wachstum unter diesem Zwang möglich?
Hierauf gibt es eine einfache Antwort. Die Plattform muss im kleinen Rahmen zeigen, dass sie sich lohnt ist. Der Aufbau von Vertrauen ist extrem wichtig, denn man benötigt auf lange Sicht Kreditnehmer und Kreditgeber, die wiederholt die Plattform nutzen. Kreditgeber fangen in der Regel erst einmal mit kleinen Beträgen an. Wenn sie zufrieden sind, bleiben sie nicht nur treu und erhöhen ihren Einsatz, sondern sprechen auch mit ihren Bekannten über die Möglichkeit. Mundpropaganda ist ein mächtiger Verkaufskanal. Außerdem ist jeder Blick auf einen neuen Kontoauszug ernüchternd, wenn man sieht, dass keine Zinsen verdient wurden bzw. sogar Negativzinsen anfielen. So wird ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, nach Möglichkeiten für die Geldvermehrung zu suchen. Übrigens: Kreditnehmer, die mit einer Plattform zufrieden sind, werden auch mit Branchenkollegen allgemein mit höherer Wahrscheinlichkeit über moderne Finanzierungsarten sprechen.
Aber es besteht die latente Gefahr, dass eine Plattform ihre Standards fortgesetzt absenkt, um ihr Volumen zu erhöhen.
Das Bankwesen steht vor der gleichen Herausforderung. Jeder möchte sein Geschäft ausbauen. Aber die Hauptfrage ist: Was ist der Wettbewerbsvorteil? Können bessere Konditionen angeboten werden, weil die Risikoanalyse besser ist, oder wird das Risiko einfach falsch eingeschätzt? Letzteres wird natürlich in einer Katastrophe enden, denn Vertrauen kann viel schneller zerstört als aufgebaut werden. Plattformen haben ein starkes Interesse daran, dass die Kreditnehmer einer bestimmten Qualität entsprechen und dass es Kontrollen gibt, um eine Abwärtsspirale zu vermeiden. Aber man darf nicht dem Trugschluss erliegen, dass es keine Ausfälle geben wird. Man bekommt keine 10 % Zinsen, wenn man Shell oder Nestlé einen Kredit gewährt. Was am Ende zählt, ist die durchschnittliche Rendite eines diversifizierten Portfolios.
Sie sind ein viel beschäftigter Mensch, Vorstandsmitglied und Beraterin mehrerer Unternehmen. Warum haben Sie sich entschieden, dem EstateGuru-Vorstand beizutreten?
Ich liebe die Menschen und die Unternehmenskultur. Die Zusammenarbeit mit den Menschen ist mir sehr wichtig und ich würde es nicht tun, wenn sie mir ein schlechtes Gefühl gäben. Ich stehe für dieselben Werte. Mit Marek [Pärtel, EstateGuru-Gründer und -CEO] fühlte ich von Anfang an eine starke Verbindung. Er und das Team möchten etwas Großartiges aufbauen und nicht nur Geld verdienen. Darüber hinaus bin ich mit dem Produkt sehr vertraut, da ich schon seit einiger Zeit in Kredite auf der EstateGuru-Plattform investiere.
Mit einem Volumen von 120 Mio. EUR im Jahr 2020 ist EstateGuru bereits die größte Plattform für immobilienbesicherte Kredite in Europa. Aber die Ambitionen sind noch viel ehrgeiziger: Das Ziel sind 5 Mrd. EUR im Jahr 2025. Wie realistisch ist das?
Immobilien sind die größte Assetklasse der Welt. Der Markt für die Art von Krediten, die wir anbieten, wird allein in Europa auf 400–500 Mrd. EUR geschätzt. Kann die beste Plattform 1 % des Marktes erobern? Natürlich kann sie das. Die Nachfrage von Kleinanlegern nach der von uns angebotenen Einnahmeart ist enorm. Das Kreditvolumen des letzten Jahres ist ein Klacks im Vergleich zu dem, was möglich ist.
Aber um diese Art von Volumen zu erreichen, muss EstateGuru den großen Pool an Kapital anzapfen, den institutionelle Investoren zur Verfügung stellen können. Warum waren diese in der Vergangenheit nur vereinzelt auf der Plattform aktiv?
Als ich bei meinem vorherigen Arbeitgeber arbeitete, leitete ich ein Team von 40 Mitarbeitern und verwaltete ein Vermögen von 24 Mrd. EUR. Wir haben uns nicht einmal die Möglichkeiten angesehen, bei denen wir nicht 100 oder 200 Mio. EUR auf einmal platzieren konnten, denn das wäre Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche gilt für andere Private-Debt-Fonds da draußen. Eine Plattform muss bis zu einer gewissen Größe wachsen, um institutionelles Geld verarbeiten zu können. Sobald sie aber diese Größe erreicht hat, wird die Entwicklung schnell gehen. Daneben glaube ich jedoch immer noch fest an das Potenzial von Kleinanlegern.
Und warum?
Weil Investieren aufregend ist, vor allem wenn man selbst die Kontrolle hat und 10 % Zinsen bekommt. Ich vertraue mein Geld nicht einem Vermögensverwalter an, wenn diese Art von Alternative existiert. Warum sollte ich auch? Gerade die jüngere, digital-affine Generation wird feststellen, dass dies das richtige Produkt für sie ist. Und im Allgemeinen verabscheuen sie Banker, was noch ein Grund mehr ist.
Ein weiterer Wachstumsvektor für EstateGuru wird die geografische Expansion sein. Aber die Immobilienmärkte sind von Natur aus lokal geprägt und unterscheiden sich stark voneinander. Der Eintritt in neue Märkte erhöht das Risiko, dass etwas schiefgeht.
Wir wissen, dass die Märkte eine unterschiedliche Dynamik haben und sind uns dessen sehr wohl bewusst. Deshalb stellen wir lokale Mitarbeiter ein und analysieren den rechtlichen Rahmen in einem Land gründlich. Trotz der Unterschiede bleiben viele Prozesse gleich, z. B. die Kreditnehmerakquise. Viele Leute denken bei Europa an viele verschiedene Märkte, aber ich sehe es eher so, dass man den Kontinent als einen großen Markt betrachten sollte, der eine riesige Chance darstellt.
All das klingt vielversprechend, aber wie stellen Sie als Vorstandsmitglied sicher, dass die Risiken gut verwaltet werden?
Indem ich Wert auf Qualität und Vielfalt im Team lege. Ich möchte sicherstellen, dass wir ein Gleichgewicht in Bezug auf Input, Prozesse und Dynamik haben. Es muss eine gute Balance im Team geben. Ein weiterer Punkt ist die Vielfalt der Meinungen. Ich spreche mit den Leuten im Team darüber, worüber sie sich Sorgen machen, und diese Interaktionen ermöglichen es mir, Marek ein ehrliches Feedback zu geben. Er hört immer zu und hat immer ein offenes Ohr. Eine offene Kritikkultur ist die Quintessenz, um Risiken gut verwalten zu können. CEOs schnell wachsender Unternehmen brauchen Menschen um sich herum, die ein Gegengewicht bilden und ihnen die ehrliche Meinung sagen. Das ist die Grundlage einer guten Unternehmensführung und meine Überzeugung, dass EstateGuru eine vielversprechende Zukunft hat.
Dr. Gabriella Kindert ist eine erfahrene Bank- und Investmentexpertin, spezialisiert auf alternative Kredite und Privatmärkte. Sie sammelte über 20 Jahre internationale Erfahrung in der Verwaltung von Investmentportfolios über den kompletten Zyklus hinweg, wobei sie für führende institutionelle Investoren und globale Investmentteams für alternative und festverzinsliche Strategien tätig war. Sie begann ihre Karriere im Bankwesen 1998 bei MeesPierson Corporate and Investment Banking und hatte verschiedene Führungspositionen bei Fortis Investments Structured Credit und BNP Paribas Asset Management inne. Derzeit konzentriert sie sich auf Vorstands- und Beratungspositionen mit dem Schwerpunkt auf Investmentlösungen für den Privatmarkt. Außerdem ist sie Gastdozentin an verschiedenen Business Schools.
Alle Investitionen, einschließlich Immobilien, sind spekulativer Natur und mit einem erheblichen Verlustrisiko verbunden. Wir ermutigen unsere Anleger dazu, sorgfältig zu investieren. Wir ermutigen die Anleger auch, sich persönlich von einem professionellen Anlageberater beraten zu lassen und unabhängige Untersuchungen durchzuführen, bevor sie aufgrund der von uns veröffentlichten Informationen handeln.