Kannst Du uns einige Hintergrundinformationen darüber geben, wie die Verordnung entstanden bzw. weshalb sie notwendig geworden ist?
Crowdfunding an sich gibt es schon ziemlich lange – seit über zehn Jahren. Wenn man sich die Ursprünge ansieht, so sind die meisten Plattformen im Zuge der letzten Finanzkrise 2007–2008 entstanden.
Zuvor konnte man einfach zur Bank gehen und eine Einlage tätigen. Daraufhin nahm die Bank das Geld und verlieh es, entweder für Verbraucherkredite oder für die Immobilienentwicklung. Die Zinsen, die aus diesen Investitionen erwirtschaftet wurden, nahm die Bank für sich selbst ein, als Gewinn bzw. als Betriebskosten. Wenn man aus finanziellen oder anderen Gründen keinen Kredit von der Bank bekommen konnte, hat man sich bei Möglichkeit an eine vermögende Person gewandt und sich das Geld direkt von dieser geliehen.
Nach der Krise wurde Fintech zu einem heißen Thema und man war überzeugt: Die Grundsteine sind gelegt, aber man sollte versuchen, einige Dinge zu verbessern. Also arbeitete man an der Skalierbarkeit und Benutzerfreundlichkeit, der Ermittlung der Schwachstellen der traditionellen Kreditvergabe und Prüfung, ob man diese beheben kann. Ist es möglich, den Nutzern mit Apps und günstigeren Zahlungsplattformen ein besseres Erlebnis zu bieten? Es gab auch diejenigen, die sich fragten, was passieren würde, wenn man tausend Menschen auf einer Plattform vernetzen würde, die jeweils hundert Euro bereitstellen, um diese Gelder für Investitionen zu bündeln und gemeinsam Kredite zu vergeben.
Diese Idee funktioniert gut, denn sie ermöglicht den Anlegern einen direkten Zugang zu ihren Einnahmen. Obwohl der Kunde jetzt das Risiko trägt, ist die Rendite viel höher, denn statt ein paar Prozent kann man die volle Rendite von 10, 11 oder manchmal noch mehr Prozent erhalten. In den USA war diese Vorgehensweise ein voller Erfolg, worauf Anbieter im Vereinigten Königreich folgten. Ein Gebiet in Europa, in dem die Idee besonders gut funktioniert, ist das Baltikum. Estland zum Beispiel ist heute bei den Pro-Kopf-Investitionen eines der führenden Crowdfunding-Länder in Europa.
Das Problem dabei war jedoch, dass die Regulierung nicht so schnell folgte, wie die Crowdfunding-Branche in Gang kam. Die Behörden waren nämlich immer noch damit beschäftigt, die Banken nach der letzten Krise zur Vernunft zu bringen. Die neue Branche wurde aber so schnell zu einem so großen Phänomen, dass das Vereinigte Königreich und einige andere Länder bald schon Vorschriften zum Schutz der Kleinanleger veröffentlichten.
Was waren Deiner Meinung nach die Hauptgründe, die die Aufsichtsbehörden zum Handeln veranlassten?
Ich denke, es war die Proaktivität. Die Aufsichtsbehörden waren überzeugt, dass es an der Zeit sei, die Branche zu regulieren und nicht zu warten, bis sie zu groß und damit unkontrollierbar werden würde. Schließlich wurde dieses Thema in ganz Europa aufgegriffen, denn man dachte, dass den Unternehmen auch die Öffnung in anderen Bereichen vereinfacht werden sollte, da Europa einen gemeinsamen Markt teilt. D. h., wenn man eine Banklizenz hat, sollte man diese in ganz Europa frei anwenden können wie einen Reisepass. Also begann man, an einer paneuropäischen Crowdfunding-Lizenz zu arbeiten, die es Unternehmen ermöglichen würde, ihr Geschäft einfach in ganz Europa zu betreiben. Aber aufgrund der Komplexität des Themas und der Vielzahl der Gerichtsbarkeiten dauerte die Umsetzung ziemlich lange.
Wie lange hat es gedauert?
Es war ein sehr langwieriger Prozess, der aufgrund der Covid-Situation sogar länger dauerte als erwartet. Die Verordnung ECFR wurde im Jahr 2020 verabschiedet und am 11. November 2021 in der gesamten Europäischen Union anwendbar, wofür die bestehenden Marktteilnehmer ein Jahr Zeit hatten, ihre Lizenzen in ihren jeweiligen Ländern zu beantragen. Als Unternehmen hat man also nun die Wahl: Entweder man lässt sich als Crowdfunding-Dienstleister regulieren oder man versucht, eine andere Lizenz zu finden. Wenn man aber dieses Geschäftsmodell verfolgen möchte, bleibt es einem nun verwehrt, wenn man nicht reguliert ist.
Derzeit kann man problemlos in einem einzigen Land tätig sein, aber wenn man europaweite Aktivitäten beabsichtigt, muss man zunächst sicherstellen, dass man die Anforderungen in jedem einzelnen europäischen Land erfüllt. Mit dem ECFR wird die europaweite Tätigkeit erleichtert. Wenn Sie als finnisches Unternehmen beispielsweise in Deutschland oder Frankreich oder sonst wo tätig werden möchten, können Sie dies jetzt tun, wenn Sie eine Crowdfunding-Lizenz haben, denn Sie können Ihre Regulierungsbehörde darüber informieren, dass Sie in einem Land tätig werden möchten, sodass diese die Regulierungsbehörden im anderen Land darüber informieren wird, dass ein reguliertes finnisches Unternehmen Dienstleistungen in ihrem Zuständigkeitsbereich anbieten wird. Im Wesentlichen geht es hier also um die Verschmelzung zu einem einzigen Markt und einfachere Verfahren für die Tätigkeit in verschiedenen Ländern.
Ein weiterer Grund für die Regulierung ist ein besserer Schutz, vorwiegend für diejenigen, die besonders geschützt werden müssen, d. h. die Anleger oder Nutzer, die nicht zu den typischen Finanzunternehmen gehören. Die europäischen Regulierungsbehörden tun alles in ihrer Macht Stehende, um zu verhindern, dass betrügerische Unternehmen die Kleinanleger bestehlen und dann ins nächste Land weiterziehen können. Die Regulierung dient also auch dazu, das Geschäft und den Markt anzukurbeln, Schutz zu bieten und schließlich für Klarheit zu sorgen.
Crowdfunding ist eine sehr spezifische regulierte Dienstleistung, sodass man als Crowdfunding-Anbieter beginnen und dann die nächste Stufe erreichen kann, indem man etwa eine Lizenz für die Anlageberatung oder andere Wertpapierdienstleistungen oder, wenn man Einlagen entgegennehmen möchte, eine Banklizenz erhält. Es gibt also verschiedene Stufen, die Sie als Unternehmen wählen können. Je nachdem, was Sie tun möchten, müssen Sie die Vorschriften kennen, die Sie einhalten müssen.
Wie werden sich diese Vorschriften auf Estateguru als Unternehmen auswirken? Wir haben uns natürlich für sie eingesetzt, aber was bedeuten sie für uns?
Das Wichtigste, was wir als Crowdfunding-Anbieter möchten, ist das Vertrauen der Anleger. Die Banken sind seit Langem reguliert, was Menschen das Vertrauen gibt, über diese zu investieren. Wir sind seit jeher transparent und tun alles dafür, um die Regeln einzuhalten und unsere Nutzer zu schützen. Unsere Dienstleistung verlangt von den Kunden, dass sie Risiken in Bezug auf ihr Geld eingehen. Damit sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, brauchen wir also ihr Vertrauen, und wir haben immer alles getan, was wir konnten, um sicherzustellen, dass unsere Anleger Vertrauen in uns haben.
In Estland gab es bis zum Inkrafttreten des ECFR keine Vorschriften, aber es gab einen estnischen Dachverband für estnische Fintechs namens FinanceEstonia, der irgendwann eine Arbeitsgruppe bildete, in der sich mehrere Fintech-Marktteilnehmer zusammenschlossen, die einen unverbindlichen Leitfaden, die “Crowdfunding Best Practices”, herausgaben, die völlig freiwillig waren. Im Grunde bedeutete dies, dass die Fintech-Unternehmen, die die Praktiken anwandten, versprachen, Grundsätze zu befolgen, die den Crowdfunding-bezogenen Anforderungen im Vereinigten Königreich und jetzt auch der aktuellen europäischen Verordnung sehr ähnlich waren. Crowdfunding-Unternehmen, die sich der Best Practices anschließen wollten, mussten dies beantragen. Ein von FinanceEstonia eingerichteter separater Ausschuss prüfte die Anträge und lehnte sie entweder ab oder genehmigte sie. Sie mussten Informationen über ihr Unternehmen und die Schritte vorlegen, die sie unternommen haben, um die Best Practices einzuhalten.
Es gab auch Länder, in denen eine vollständige lokale Regulierung existierte. Als wir also begannen, in verschiedene Länder zu expandieren, prüften wir als Erstes, ob es dort Vorschriften gab. Der nächste Schritt bestand darin, die Lizenz im jeweiligen Land zu erhalten. So waren wir das erste Unternehmen, das in vielen europäischen Ländern reguliert wurde, vom Vereinigten Königreich über Finnland bis nach Litauen. Unser Ziel dabei war, dass wir transparent und integer bleiben.
Als Unternehmen haben wir bereits viele Vorbereitungen getroffen: Kundenkontrollen, Protokolle für die Beschwerdebearbeitung, angepasste Marketingbotschaften usw. Ein großer Teil der Vorbereitungsarbeit wurde also schon vor der Einführung der neuen Verordnung geleistet. Es gibt natürlich auch neue Elemente, aber wir haben uns aktiv auf diese vorbereitet und begrüßen sie daher. In Estland konnten wir sogar an der Ausarbeitung dieser Grundsätze mitwirken und haben viel Zeit dafür investiert. Unternehmen und Organisationen arbeiteten mit ihren lokalen Ministerien zusammen, um den europäischen Entscheidungsträgern Rückmeldung zu geben. In Estland war es FinanceEstonia, das dem Finanzministerium bei den Verhandlungen über die Verordnung in der EU offiziell den Rücken stärkte. Es gab eine vernetzte Zusammenarbeit, und ich denke, so sollte es auch gehandhabt werden. Wenn man innovativ sein möchte, sollte man den Unternehmen ermöglichen, sich weiterzuentwickeln und zu sehen, wohin das führt, und nicht einfach aus der Ferne Entscheidungen treffen und sie durchsetzen. Wenn man zu strenge Maßnahmen einführt, könnte man die Branche ersticken.
Viele Branchenteilnehmer haben diese Vorschriften herbeigesehnt – auch wir – um Klarheit zu schaffen. Das Hauptproblem bestand darin, dass die lokalen Vorschriften alle unterschiedlich waren, was zwar für Unternehmen funktionierte, die in einem einzigen Land Dienstleistungen erbringen, aber nicht für die, die europaweit tätig sein wollten. Wenn Sie ein modernes, technologiegetriebenes Geschäftsmodell haben, mit dem Sie in einem Land starten möchten, Ihre Kunden aber aus vielen verschiedenen Ländern kommen, ist es wichtig, dass die Vorschriften für alle gelten. Da wir in verschiedenen Ländern tätig sind, haben wir über unsere Vertreter in allen Ländern zu dieser Diskussion beigetragen.
Wer wird von den Vorschriften am meisten betroffen sein?
Wie ich bereits sagte, sind sie für uns eine großartige Entwicklung, weil sie Vertrauen und Klarheit schaffen, aber wir sind auch schon ein etabliertes Unternehmen. Einige der kleineren Unternehmen könnten die neuen Anforderungen als frustrierend empfinden, da ihre Investoren mehr Aufnahme-Protokolle durchlaufen und spezifische Anforderungen erfüllen müssen, sodass die Nutzererfahrung leiden könnte.
Gibt es noch andere wichtige Änderungen, die wir erwähnen sollten?
Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Verbraucher- bzw. dem Anlegerschutz. So gibt es etwa klare Regeln dafür, welche Informationen über ein Projekt veröffentlicht werden müssen und wie mit Beschwerden umgegangen wird. Sie müssen diese protokollieren, damit sie auf Verlangen der Aufsichtsbehörden vorgelegt werden können. Es gibt auch mehr Klarheit in Bezug auf Interessenkonflikte und darüber, wer einen Kredit und an wen man einen solchen vergeben kann. Es gibt besser definierte Kriterien dafür, welche Handlungen unter diese Vorschriften fallen und damit auch eine gewisse Flexibilität, denn die Länder können den Grenzwert von Projekten festlegen, sodass verschiedene Vorschriften greifen. Wie viel kann man mit einer bestimmten Lizenz verleihen? Diese Werte sind jetzt klarer definiert worden. Es gibt auch eine Unterteilung der Investoren in die Kategorien „erfahren“ und „einfach“, die von bestimmten Kriterien abhängen. Es liegt in der Verantwortung der Unternehmen, ihre Kunden zu verstehen und ihnen gegebenenfalls Sicherheitsnetze zu bieten und Grenzen zu setzen, um ihre Anlageerfahrung so sicher wie möglich zu gestalten. So gibt es bei uns etwa eine viertägige Bedenkzeit, damit Sie nach einer Investitionsentscheidung Zeit haben, sich doch noch umzuentscheiden, falls Sie als einfacher Anleger eingestuft sind. Außerdem gibt es klare Richtlinien für die Vermarktung von Dienstleistungen und einen nachhaltigen Geschäftsplan, der auch unerwartete Entwicklungen berücksichtigt. Dies sind nur einige der wichtigsten Punkte. Die Verordnung und ihre delegierten Rechtsakte umfassen insgesamt über 100 Seiten, sodass wir in diesem Interview nicht auf alle Einzelheiten eingehen können.
Nun ist alles klar. Vielen Dank, dass Du das Wesentliche für uns zusammengefasst hast.