Wir haben uns mit ihm zu einem ausführlichen Gespräch getroffen und erfahren, wie EstateGuru an Risiken herangeht, wie Kreditnehmer ausgewählt werden, welche Herausforderungen der Betrieb in mehreren Ländern mit sich bringt, wie das Unternehmen Technologie und menschliches Fachwissen zum Erreichen hoher Effizienz kombiniert, und vieles mehr.
Frage: Lassen Sie uns mit den Grundlagen bei der Auswahl von Kreditnehmern beginnen. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob und zu welchem Zinssatz ein Unternehmen einen Kredit bekommt?
Andres Luts: Potenzielle Kreditnehmer auf der Plattform von EstateGuru sind typischerweise kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Märkten, in denen es eine Finanzierungslücke gibt. Für diese sind Bank- und andere Finanzierungsoptionen schwer zugänglich.
Zu Beginn überprüfen wir ihre Historie und schauen nach den Erfahrungen. Natürlich prüfen wir auch ihren finanziellen Status. Die Unternehmen müssen finanziell gesund sein und dürfen keine laufenden Vollstreckungen haben, d. h. keine Steuerprobleme oder Zahlungsausfälle und faule Kredite an anderer Stelle. Im Immobilienbereich erfolgt die Kreditvergabe sehr oft über ein Special Purpose Vehicle (SPV), also an neu gegründete Unternehmen, die speziell für das Projekt geschaffen wurden. Deshalb bitten wir einen Kreditnehmer auch, seine Erfolgsbilanz und frühere Projekte und Nachweise über deren Erfolg bereitzustellen und auch den Geschäftsplan des neuen Projekts, falls vorhanden. Das deckt zwar die Seite des Kreditnehmers ab, aber da wir durch Immobilien besicherte Kredite vergeben, bewerten wir auch die als Beleihungsobjekte angebotenen Immobilien.
Das heißt, wir schauen uns die Lage, den Marktwert, die Methodik des Wertgutachtens und den bisherigen Verkaufspreis an.
Zusammengefasst muss der gewünschte Kreditnehmer Folgendes erfüllen:
– Juristische Person (in der EU registriert) mit einer einjährigen aktiven Geschäftshistorie (EstateGuru schließt jedoch keine Anträge aus, bei denen dieses Kriterium nicht erfüllt ist, einschließlich projektbasierter Unternehmen).
– Keine offenen Steuern (außer gestundete) und andere aktive Zahlungserinnerungen.
– Es gibt keine Konkursverfahren in Bezug auf den Kreditnehmer oder verbundene Parteien.
– Es besteht kein Verdacht auf Geldwäsche in Bezug auf den Kreditnehmer oder verwandte Parteien.
In Bezug auf den Zinssatz nutzen wir ein separates Zins- und auch ein internes Bewertungsmodell. Wir lassen also alle verschiedenen Aspekte in diese Modelle einfließen, wonach diese uns den Mindestzinssatz ausgeben. Aber da wir ein Marktplatz sind, müssen wir auch für Investoren attraktiv sein, besonders wenn es um größere Kredite geht. Das Zinsmodell könnte etwa berechnen, dass sich der Kreditnehmer für einen Zinssatz von 11 % qualifiziert, aber wenn der Kredit etwa fünf Millionen Euro beträgt, müssen wir einen weiteren Prozentpunkt hinzurechnen, um den Investoren den Kredit schmackhaft zu machen. Die Logik hinter der Zinssatzermittlung ist also eine Mischung. Wie viele Investoren aus dem Land des Kredites sind auf unserer Plattform? Und wie ist die aktuelle Liquiditätssituation auf der Plattform? Auch das wirkt sich auf den Zinssatz aus. Im Gegensatz zu einer traditionellen Bank haben wir also eine fortschrittlichere Zinspolitik.
F: Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von dem der traditionellen Banken?
A: Wir verwenden im Grunde die gleichen traditionellen Kreditverfahren der Banken, aber haben eine effizientere Art und Weise der Vergabe entwickelt, indem wir Technologie, Drittquellen, Datenbanken, automatisierte Bewertungsmodelle, eine Bauaufsicht usw. nutzen. Das ermöglicht uns, viel, viel schneller zu sein.
Wir treffen Kreditentscheidungen rund um die Uhr und nicht nur ein- oder zweimal pro Woche. Das ist unser Wettbewerbsvorteil, wenn wir uns mit den Banken vergleichen.
Das Hauptziel ist Folgendes: Wir verwenden im Allgemeinen die gleichen Kriterien wie die traditionellen Kreditnehmer, aber tun dies schneller und technologiegesteuert.
F: Führen Sie die Bewertungen intern durch oder nutzen Sie externe Fachleute?
A: Wir setzen immer externe, unabhängige und lizenzierte Bewertungsexperten ein. Die Bewertung muss den Marktwert wiedergeben, ohne jegliche Annahmen und nur für Kreditzwecke. Wir sind sehr kritisch, weil wir intern über ein umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet verfügen. Eines unserer Vorstandsmitglieder hat als Gutachter gearbeitet. Ich selbst habe früher als Gutachter für eine Bank gearbeitet. Wir analysieren also alles. Wir führen eine Neuberechnung durch und überprüfen auch jeden Teil der externen Bewertung. Wenn wir das Gefühl haben, dass der Wert zu hoch ist, senken wir den maximalen Kreditbetrag.
F: Wenn man bedenkt, dass der Immobilienmarkt in vielen Gegenden Europas gerade boomt, wie gehen Sie dann mit der Aussicht um, dass die Märkte in Zukunft abkühlen könnten?
A: Die von uns festgelegte Beleihungsquote (LTV) ist dazu da, um sich gegen eine Marktabkühlung abzusichern. Unsere durchschnittliche historische Beleihungsquote liegt unter 60 %, d. h., erst bei einem Einbruch des Immobilienwertes von mehr als 40 %, kann es zu einem Verlust für die Investoren kommen. Dies ist ein sehr konservativer Ansatz und da wir auch unsere operativen Märkte sorgfältig auswählen, halten wir dies für ausreichend, um die Gelder der Investoren abzusichern.
Wir analysieren immer die makroökonomische Dynamik des Landes, den Immobilienmarkt, aber nehmen auch bestimmte Städte oder Segmente genauer unter die Lupe. Wir sind also auf alles vorbereitet. Wenn wir sehen, dass der Markt boomt, dann bieten wir einfach einen kleineren Kredit gegen diese Immobilie in diesem Markt an, um einer Überbewertung durch den Boom entgegenzuwirken.
F: Gibt es bestimmte Warnsignale, durch die Sie sofort sagen können, dass ein Unternehmen keinen Kredit bekommt?
A: Oh ja, definitiv. Wenn es einen sehr fragwürdigen Hintergrund auf der Seite des Kreditrisikos gibt, lehnen wir sofort ab. Wenn es also eine Vorgeschichte mit Konkursen oder vielleicht Steuerbetrug, Geldwäsche oder ähnliches gibt.
Und wir brauchen auch Kreditnehmer mit finanzieller Stabilität, also schauen wir uns die Stärke des Unternehmens oder des Konzerns an. Manche Unternehmen haben viele offene Kredite bei verschiedenen Kreditanbietern, und selbst wenn sie verschiedene Beleihungsobjekte oder Sicherheiten für diese Kredite stellen, kann es sein, dass sie überschuldet sind. Bei uns gibt es auch eine Gesamtfinanzierungsgrenze, durch die ein Kreditnehmer typischerweise nicht mehr als 10 Mio. Euro an Krediten führen kann. Diese ist eingeführt worden, weil wir in der vorherigen Finanzkrise viele Fälle mit Kreditnehmern hatten, die mehrere Kredite gegen ihre Immobilien aufgenommen und mehrere Projekte gleichzeitig durchgeführt haben, sodass sie ernsthafte Probleme mit der Kreditrückzahlung hatten.
Es gibt auch einige Branchen und Bereiche, die es uns grundsätzlich unmöglich machen, einen Kredit zu vergeben. Kreditnehmer, die in den folgenden Branchen tätig sind oder damit in Verbindung stehen, sind nicht die Zielkunden für die Produkte von EstateGuru:
– Glücksspiel und Wetten;
– Tabakproduktion;
– Exportaktivitäten in sanktionierte Länder;
– Herstellung und Verkauf von Waffen;
– Atomkraft-Produktion;
– Fischproduktion;
– politische Parteien und andere politische Organisationen.
F: Wie werden die Risiken in Bezug auf die verschiedenen Länder gehandhabt? Wird alles zentral im Hauptsitz in Tallinn bewertet und verwaltet, oder wird dies den Teams vor Ort in den anderen Ländern auferlegt?
A: Wir verfügen über Landes- und Kreditmanager in jedem Land. Diese sind die erste Anlaufstelle – machen also die erste Risikoanalyse und schicken dann den Antrag an unsere Zentrale in Tallinn. Und ja, die Hauptentscheidungen werden in unserer Zentrale getroffen, aber in größeren Ländern wie Deutschland und Finnland werden wir in den kommenden Monaten einen lokalen Risikoanalysten einstellen.
In kleineren Ländern wie Lettland und Litauen brauchen wir solch eine Person nicht, weil wir lokale Bauaufsichten einsetzen, die die Baukosten doppelt prüfen, wenn es zum Beispiel um einen Entwicklungskredit geht. Wir nutzen auch lokale Partner, um Wertgutachten zu überprüfen, falls wir den Verdacht haben, dass der Wert zu hoch angesetzt sein könnte.
F: Eine spezifische Frage für den deutschen Markt ist, ob er in irgendeiner Weise eine Besonderheit darstellt. Müssen Sie Dinge berücksichtigen, die für die anderen Märkte nicht gelten?
A: Ja (Deutschland ist besonders), ich denke, dass die Sekundärstädte und Provinzgebiete in Deutschland liquider sind als in den kleineren baltischen Ländern. In Deutschland fahren viele Pendler bis zu 100 Kilometer weit zur Arbeit. Vom Kreditrisiko her sieht es ziemlich ähnlich aus, aber rechtlich gibt es natürlich Unterschiede bei Grundschulden, Notaren usw. Deshalb haben wir einen starken juristischen Partner, der uns bei der Bewertung dieser Risiken unterstützt.
F: EstateGuru erhebt den Anspruch, dass seine Finanzierungen etwa fünfmal schneller als über traditionelle Banken realisiert werden. Wie können Sie das erreichen? Sie haben bereits die Technologie erwähnt, aber was gibt es sonst für Kriterien?
A: Wie ich bereits sagte, treffen wir täglich Kreditentscheidungen und nicht ein- oder zweimal pro Woche, wie es zum Beispiel Banken tun. Außerdem gibt es bei uns in jedem Risikobereich eine Person, die den Länder- und Kreditmanagern sowie Kreditnehmern vor Ort hilft, alle Informationen, die wir für eine Entscheidung benötigen, sofort zu präsentieren. Das spart eine Menge Zeit für unnötiges Hin und Her. Unsere Vorgehensweise ist sehr proaktiv und wir warten nicht auf eine Antwort. Wir kommunizieren gerne mit dem Kreditnehmer und sind sofort vor Ort.
Unsere Bürokratie ist auch viel geringer als bei Banken. Die bereits erwähnte Technologie hilft uns also, die richtigen Risikofelder und die roten Tücher schneller zu finden. Die Vision und die Marktkenntnis von Immobilien sind bei EstateGuru stärker als vielleicht im traditionellen Bankwesen – wir sind Experten auf dem Gebiet. Derzeit gibt es auch noch nicht so viel Bürokratie oder Vorschriften, mit denen wir uns im Moment beschäftigen müssen. Darauf sind wir aber bereits vorbereitet, denn die neue europaweite Gesetzgebung für Crowdfunding wird bald eingeführt.
Intern und extern arbeiten wir mit Partner zusammen, die sich auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert haben. Deshalb bekommen wir die schnellsten Ergebnisse für unsere Kreditnehmer und Investoren.
F: Prüfen Sie alles zuerst durch die Technologie und danach kommt der Mensch ins Spiel? Oder handelt es sich um einen parallelen Prozess?
A: Einige Prüfungen werden bereits durch unsere Scoring-Modelle durchgeführt, wonach der Mensch dazukommt und die Ergebnisse verifiziert. Es gibt also noch ein gewisses menschliches Zutun. Bei größeren Krediten sollte das noch eine Zeit lang so sein, weil wir dem Kreditnehmer zusätzliche Fragen stellen und die Baustellen besuchen müssen. Aber wir entwickeln uns auf eine Zeit in der Zukunft zu, in der wir vielleicht Satellitenbilder und Drohnen haben, welche die Besichtigungen vor Ort ersetzen usw. Darauf arbeiten wir hin. Im Moment würde ich sagen, handelt es sich immer noch um eine 50/50-Aufteilung zwischen Mensch und Technologie.
Natürlich ist dieser ganze Prozess ziemlich teuer. Jemand muss immer noch einen Überblick über den Prozess haben und Bereiche finden, in denen wir die Geschwindigkeit verbessern und mehr Automatisierung einführen können. Ich denke, dass größere Knotenpunkte noch ein paar Jahre lang menschliches Eingreifen benötigen werden. Und wenn es um größere Kredite geht, treffen wir den Kreditnehmer immer noch persönlich. In Deutschland ist es zum Beispiel auch immer noch Pflicht, sich mit dem Kreditnehmer zu treffen oder einen Videoanruf mit ihm zu machen. Wir treffen also alle entweder persönlich oder führen ein Videogespräch, damit wir eine Beziehung aufbauen können, die uns hilft, sie bei Bedarf in der Zukunft zu kontaktieren. Das ist auch der Grund, warum wir Baustellen besuchen. Wir müssen sicherstellen, dass mit dem Kredit tatsächlich etwas gebaut wird.
In Teil 2 werden wir besprechen, wie EstateGuru mit Zahlungsausfällen umgeht, wie das Vollstreckungsverfahren aussieht und vieles mehr.